Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau

Die diesjährige Grosse Landesausstellung des Bundeslandes Baden-Württemberg «Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau» in Konstanz erinnert – bereits durch den Titel -an die Aufnahme der Insel Reichenau in das Welterbe der UNESCO (2000) und in das Weltdokumentenerbe (2003). Gleichzeitig reiht sie sich in Jahrhundertfeiern der Insel Reichenau ein und hebt sich ausdrücklich von den dort jeweils vertretenen Perspektiven und Schwerpunkten ab. Im Blick auf 1200 Jahre Klostergeschichte veröffentlichte vor knapp 100 Jahren der Rechtshistoriker und Mitglied der Zentrumspartei in der Weimarer Nationalversammlung (1920/20) Konrad Eberle ein zweibändiges Werk mit dem Titel «Die Kultur der Abtei Reichenau». In einer Lektüre dieser Publikation stellte Arno Borst fest, dass Konrad Eberle mit seiner Publikation die Entstehungsgeschichte und Geschichte des Reichenauers Klosters als «abendländisches Monument» darstellt, geprägt durch ein «harmonisches Zusammenspiel von karolingischer Politik und benediktinischer Frömmigkeit». Konrad Eberle entwirft damit ein Gegenbild zur Geschichte des Katholizismus im Deutschen Reich und ein Vorbild für den politischen Katholizismus seiner Zeit.

Von einer solchen Perspektive hebt sich die diesjährige Grosse Landesausstellung und der zugehörige Ausstellungskatalog ab. In 25 Beiträgen führt er in die Geschichte der früheren Abtei ein, präsentiert und kommentiert 250 Exponate. Dazu kommt ein weiterer Begleitband, der die Referate der Reichenauer-Tagung von Anfang März 2023 dokumentiert. Diese zeigen nicht nur den Stand der gegenwärtigen Forschung, sondern formulieren eine Reihe offener Fragen, die nicht nur für die Geschichte der Klosterinsel, sondern für die Mediävistik von Bedeutung sind. Dies gilt durch eine zweifache Perspektivierung der Beiträge. Die Klosterinsel Reichenau wird einmal in regionale Kontexte eingeordnet, in der sich lokale Lebenswelten und die Reichs- und Religionspolitik der Karolinger und Ottonen überschneiden. Gleichzeitig gelingt es Reichenauer Äbten, Schriftstellern und dem überragenden Skriptorium Impulse zu setzen, die für das ostfränkische Reich grundlegend waren. Diese Schwerpunkte sind in den Beiträgen des ersten und dritten Teils des Sammelbandes zu finden.

Die älteste Äbte-Liste mit Pirmin als erstem Abt findet sich in dem vom jugendlichen Mönch Walahfried in lateinischen Versen verfassen Bericht («Vision Wettini») über die Jenseitsvisionen und den Tod seines Lehrers Wetti im Jahre 824. Die Regierungszeit der genannten Äbte umfasst hundert Jahre. Ob diese Liste eine ideale Chronologie darstellt oder historisch treffend ist, mag offenbleiben. Wichtig ist, dass im gleichen Jahr Abt Erlebald – auch im Blick auf die Erfahrungen mit Wettis Tod – ein Verbrüderungsbuch anlegen liess, in dem die Verstorbenen aus Klöstern, die mit Reichenau verbunden waren, Stifter und Wohltäter des Klosters für ein ewiges Gebetsgedenken eingetragen wurden. Damit führte er einen Entschluss aus, den einer seiner Vorgänger, Abt Johannes von St. Gallen und Reichenau, auf dem fränkischen Reformkonzil von Attigny 762 zusammen mit 44 Bischöfen und Äbten verabschiedet hatte. Die Reichenauer Liste umfasst für den Zeitraum des 10. und 11. Jahrhunderts 30000 Namen. Liest man die Liste diachron und mit dem Blick auf die genannten Personen und Klöster, so lässt sich über die Jahrhunderte eine Konsolidierung der Netzwerke innerhalb des ost-fränkisch-deutschen Reiches beobachten. Ähnliche Verknüpfungen von regionalen und überregionalen Netzwerken lassen sich bei der Textüberlieferung der Benediktus-Regel und bei den in der Reichenauer Klosterschreibstube hergestellten Kodizes beobachten. Erwähnt seien aus dem 10. und frühen 11. Jahrhundert: die Eburnant-Anno-Grube um den Gero-Kodex (Darmstadt), das Petershausener-Sakramentar (Heidelberg), die Ruotprecht-Gruppe um den Egbert-Psalter (Cividale die Friuli), das Poussay-Evangeliar (Paris), die Liuthar-Gruppe um das Aachener Evangeliar Otto III. und die «Reichenauer Schulwerke» um das Perikopenbuch Heinrichs II. (München). Alle diese Werkgruppen zeigen, wie das Reichenauer Skriptorium Anregungen von anderen Klosterschreibstuben übernahm und eigenständige, wirkungsvolle Neugestaltungen der Kodizes gefunden hat.

Die Grosse Landesausstellung im Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg in Konstanz und auf der Klosterinsel Reichenau ist geöffnet vom 20. April bis 20. Oktober 2024. Der Katalogband und der Begleitband zum Kongress 2023 ist in der Jesuitenbibliothek vorhanden und ausleihbar.

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