Die unter der Bezeichnung Biblia pauperum bzw. Armenbibel erfasste Gruppe von rund 80 Handschriften – darunter zählen auch einige Blockbücher – stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert. In ihrer Mehrheit hatten diese Schriften ursprünglich keinen Titel oder waren mit unterschiedlichen, den Inhalt ausführlich beschreibenden Überschriften versehen. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass sie zu einer thematisch und formal begrenzten Gruppe typologischer Schriften des Mittelalters zählen. Anfänglich aus bibliothekarischen Gründen und vermutlich angeregt durch einen nachträglich hinzugefügten Eintrag in einer Handschrift in der Wolfenbütteler Landesbibliothek (er beginnt mit «hic incipitur bibelia pauperum») als biblia pauperum bezeichnet, bürgerte sich dieser Titel im Verlaufe der Zeit immer mehr ein und dient in der neueren Forschung als eine allgemein anerkannte Zuschreibung zu einem genau bestimmbaren Korpus von Schriften. Die Bezeichnung Biblia pauperum wird u.a. auch dafür verwendet, um die gemeinte Werkegruppe von gleichfalls illustrierten, typologisch aufgebauten, in Prosa oder in Reimen verfassten Andachtsbüchern wie dem Speculum humanae salvationis und der Concordantia salvationis zu unterscheiden.
Mit der Biblia pauperum liegt ein wirkungsgeschichtlich einflussreiches Modell einer typologisch konzipierten Schrift vor, die in Bildern und Texten Begebenheiten und Personen aus dem Neuen Testament Ereignissen und Personen aus dem Alten Testament gegenüberstellt. Dabei stellen die alttestamentlichen Ereignisse und Personen Vorlagen (Typus) für neutestamentliche Ereignisse und Personen (Antitypus) dar. Ihre Zuordnung erfolgt nach unterschiedlichen Kriterien: Parallelisierung, Präfiguration von etwas Zukünftigen und die Abfolge von Prophetie und deren Realisierung. Dabei spielen didaktische und memorative Absichten eine wichtige Rolle; entscheidend ist aber die theologische Intention: Altes und Neues Testament sind durch einen göttlichen Heilsplan so miteinander verknüpft, dass die neutestamentlichen Ereignisse (Antitypus) die alttestamentlichen Gegebenheiten (Typus) in ihrer Bedeutung erst erkennen lassen, wobei gleichzeitig der (alttestamentliche) Typus den (neutestamentlichen) Antitypus in einen heilsgeschichtlichen Ablauf von der Schöpfung bis zum Endgericht einordnet. Dabei werden die herangezogenen alttestamentlichen Begebenheiten nicht als Vorstufen einer evolutionären Entwicklung gedeutet, sondern als entscheidende Momente der Heilsgeschichte verstanden, d.h. in ihrer Autonomie gewahrt.
Jede Darstellung einer Szene aus dem Neuen Testament wird rechts und links je von einer typologischen Darstellung umrahmt: auf der linken findet sich eine Darstellung eines alttestamentlichen Ereignisses, das vor der Übergabe der Thora am Berg Sinai an das Volk Israel stattgefunden hat. Darum wird dieser Typus oft mit der Kennzeichnung «ante legem», d.h. «vor dem Empfang der Thora» gekennzeichnet. Parallel dazu wird der Typus auf der rechten Seite als «sub lege», d.h. «in der Zeit unter der Thora» markiert. Zusätzlich wird der (neutestamentliche) Antitypus durch vier, in Medaillons eingezeichneten Prophetenporträts umrahmt. Jedes Porträt ist mit einem Zitat des dargestellten Propheten versehen, das sich auf den entsprechenden (neutestamentlichen) Antiypus bezieht. Da unter die prophetischen Schriften auch die Psalmen gezählt werden, findet sich regelmässig auch das Porträt von König David unter den Prophetenbildern. Jeder Typus ist mit einem paraphrasierenden Zitat, das die im Typus dargestellte Szene belegt, versehen. Texte und Bilder stehen in einer präzisen Zuordnung zum Antitypus, so dass für den Benützer der biblia pauperum ein einheitlicher Eindruck entsteht, wobei die dargestellten bzw. zitierten Ereignisse in ihren Differenzen erhalten bleiben.
Die einzelnen Exemplare der biblia pauperum folgen einem Kanon der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Endgericht, wobei in der Abfolge der «Mysterien des Lebens Jesu» unterschiedlichen Anordnungen möglich sind. Dabei lassen sich acht Schwerpunkte in der Darstellung der Heilsgeschichte unterscheiden: Ankündigung und Geburt des Messias, Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, Taufe und öffentliches Auftreten Jesu, weitere Begebenheiten aus dem Leben Jesu, Verrat Jesu, Passion und Tod, die drei Tage bis zur Auferstehung, die Erscheinungen des Auferstandenen, Gründung und Triumph der Kirche. Einige Exemplare enthalten als Schlussteil eine Bildgruppe über das Endgericht. Die Weimarer Handschrift Fol. max 4 enthält zusätzlich eine Bilderfolge der Apokalypse des Johannes und schliesst mit einem Bild des Gekreuzigten zwischen Kirche und Synagoge ab.
Gerhard Schmidt hat in seiner grundlegenden Studie «Die Armenbibeln des XIV. Jahrhunderts» (1959) nicht nur die ikonologischen Differenzen zwischen den einzelnen Exemplaren der biblia pauperum untersucht, sondern auch eine Systematisierung der Beziehungen zwischen Antitypus und den verschiedenen Typen untersucht. Dabei unterscheidet er vier Arten der Beziehung. Die häufigste Art ergibt sich auf einer äusseren Ähnlichkeit zwischen den Situationen bzw. der Hauptfiguren der Vorbilder und des Antitypus- So z.B. in der Bildgruppe «Grablegung», in der die Grablegung des gekreuzigten Jesus in Parallele gesetzt wird zu Joseph, der von seinen Brüdern in die Zisterne geworfen wird und zu Jonas, der vom Fisch verschlungen wird. G. Schmidt spricht in diesem Fall von «Situationsreimen». Sehr selten sind die Gruppen auf der Grundlage der «Bildassimilation», bei denen die Vorbilder dem Antitypus angeglichen werden, so dass eine gewisse Ähnlichkeit in den dargestellten Personen und Handlungen erkannt werden kann. Neben den Situationsreimen bilden die sogenannten «Bedeutungsreime» die zweitwichtigste Gruppe der Typologien. In ihnen werden alttestamentliche Ereignisse als allegorische Vorwegnahmen des Antitypus erkennt. Dazu gehören u.a. die Gruppen Taufe Jesu, Verklärung Jesu, Abendmahl, Kreuzigung und Öffnung der Seitenwunde Jesu und das Pfingstereignis. Als letzte Art finden sich Gruppen, die nach der Zuordnung von Weissagung und deren Erfüllung gestaltet sind. Diese finden sich in den Gruppen um das Geheimnis der jungfräulichen Mutterschaft Mariens. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bedeutungsreime vor allem in jenen Bildgruppen zu finden sind, in denen es um neutestamentliche Begründungen dogmatischer Aussagen und der Sakramentenpraxis. Zieht man zur Deutung der einzelnen Gruppe noch die jeweiligen vier Prophetenporträts und die damit verknüpften Zitate heraus, ergeben sich weitere Zuordnungen, die Einzelaspekte der Vorbilder und des Antitypus allegorisch interpretieren.
In der Jesuitenbibliothek können eingesehen werden: Die Biblia Pauperum aus dem Codex. Pal. Lat. 871. Faksimile, Zürich 1982; Biblia Pauperum. Apocalypsis. Die Weimarer Handschrift. Faksimile, Leipzig und Frankfurt/M. 1997; Floridus Röhrig, Der Verduner Altar. Wien, 5. Aufl. 1979. Ausserdem wurde eingesehen: Gerhard Schmidt, Die Armenbibeln des XIV. Jahrhunderts. Graz-Köln 1959.